„Ein Schatz von Menschen, der gehoben werden will“: Chef des Kirchenkreises beschwört Gesellschaft, die bunte Vielfalt atmet

4
625

Vor einer Kulisse bunter Regenbogenschirme hielt der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Unna, Dr. Karsten Schneider, am Dienstagnachmittag (29. August) auf dem Gemeindeplatz Massen ein leidenschaftliches Plädoyer für „einen Schatz, der gehoben werden will“.

Er meinte damit die vielen Asylsuchenden und Migranten, die Woche für Woche aus unterschiedlichsten Beweggründen nach Deutschland kommen, in einer Zahl, die zunehmend für Probleme in den Kommunen und immer lautere Kritik sorgt.

Anlass für Schneiders Ansprache war die für den frühen Abend angemeldete Kundgebung der Alternative für Deutschland (AfD) mit dem Bundestagsabgeordneten Matthias Helferich. Wir berichteten ausführlich HIER.

Der Anwalt aus Dortmund wird dem sogenannten Höcke-Flügel in der AfD zugerechnet. Neben ihm traten die AfD-Fraktionsvorsitzende im Stadtrat Lünen, Friedrike Hagelstein, und der stellv. Kreisverbandssprecher Nils Hartwig als Redner vor ihr Publikum.

Übertönt waren die Ansprachen der drei AfD-Politiker von lautstarken Schmähgebrüll („Halt die Fresse“, „Nazis raus“) und gellenden Trillerpfeifen von Gegendemonstranten, darunter eine kleine Gruppe der Antifa.

Die bunte Versammlung „für Demokratie, gegen extremistische Hetze und Rassismus“ zwei Stunden vor dem Beginn der AfD-Kundgebung wurde vom Runden Tisch gegen Gewalt und Rassismus veranstaltet. Sie verlief ungestört.

Hier die Rede von Superintendent Dr. Karsten Schneider im Wortlaut.


„Sehr geehrter Herr Bundestagsabgeordneter Michael Sacher, sehr geehrter Herr Landrat Mario Löhr, sehr geehrter Herr Landrat im engagierten Ruhestand Michael Makiolla, sehr geehrter Herr Bürgermeister Wigant, lieber Herr Koppenberg, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe alle,

Superintendent Dr. Karsten Schneider. – Foto Ev. Kirchenkreis Unna

… Gut, dass Sie/ dass Ihr alle hier seid! Wir stehen gemeinsam hinter allen, die … betroffen sind von Vorurteilen und verstecktem Rassismus!

Es muss weiterhin ganz deutlich sein, dass sich solche Stimmen laut äußern dürfen und auch sollen in unserer Gesellschaft – und es darf eigentlich kein Akt besonderer Zivilcourage sein, die Dinge öffentlich zu benennen, sondern es muss einfach selbstverständlich sein und recht und billig.

… Für uns Christen und Christinnen ergeben sich diese Werte auch ganz selbstverständlich aus dem Menschenbild, wie wir es in der Bibel finden. Und das fängt schon ganz vorn in der Bibel an, mit dem Schöpfungsbericht … Adam und Eva stehen da als die symbolischen Ureltern der gesamten Menschheit. Und diese wird auch nicht etwa unterteilt und klassifiziert, sondern ganz selbstverständlich als eine große, in all ihren Zweigen eng zusammenhängende und aufeinander gewiesene Familie angesehen.

Diese Überzeugung zieht sich durch die ganze Bibel – ganz zentral natürlich über Jesus, der immer den einzelnen Menschen mit all seinen Sorgen und Nöten in den Mittelpunkt stellt ohne nach Ansehen, Status, Herkunft oder dergleichen zu fragen – bis hin z.B. zu Paulus, der einmal schreibt: „Wir unterteilen nicht in Jude und Grieche, nicht nach Sklave und Herrscher, nicht nach Mann und Frau, sondern wir alle sind allesamt eins in Christus, in Gott.“

Dieses biblisch fundierte Menschenbild hat sich in jahrhundertelanger Diskussion mit der Philosophie und im Gespräch mit anderen Religionen bewährt und ist letztlich völlig zu Recht auch eingegangen in unser Grundgesetz:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Artikel 1, Absatz 1). Damit wird juristisch genau das ausgedrückt, was der biblische Schöpfungsbericht u.a. auch sagen will.

Und auch hier wird nicht differenziert oder klassifiziert, sondern das gilt für alle Menschen uneingeschränkt – gänzlich abgesehen von Aussehen, Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, sozialem Status oder oder … Die Liebe Gottes, so sagen wir kirchlich, gilt allen und sie gilt allen in gleicher Weise!

Das ist eine der zentralen Botschaften Jesu Christi!

Das heißt nun aber nicht, wie es dieser Veranstaltung im Vorfeld z.T. unterstellt worden ist, dass wir mit geschlossenen Augen und naiv durch die Welt laufen und dass wir denken, dass damit schon alles gesagt sei. Wir wissen ganz genau, dass das nicht so ist.

Aber es geht um die Haltung, um die innere Einstellung, aus der heraus auch Probleme benannt und derzeit praktizierte politische Lösungen durchaus sehr kritisch hinterfragt werden müssen (Herr Makiolla wird konkrete Beispiele bringen.):

Eben nicht auf dem Boden von Vorverurteilungen und Pauschalisierungen, nicht aus Angst vor dem vermeintlich oder tatsächlich Fremden, sondern in einem wirklich offenen und emphatischen, einfühlsamen Diskurs.

Der Boden für alle weitere Diskussion, der Rahmen für alles Weiterdenken, ist mit dem Hinweis auf die Würde aller Menschen und auf die allumfassende Liebe Gottes gesetzt.

Und dieser Rahmen beinhaltet dann auch das nüchterne – und bitte nicht reißerische (!!!) – Wahrnehmen von Schwierigkeiten, ein klares Analysieren, das Gespräch auf Augenhöhe, das Zuhören-Können, das Wahrnehmen der Lebenssituation des und der jeweils Anderen, das Ernst-Nehmen von Ängsten und Sorgen aller Seiten (!!!), das Zulassen-Können von Kritik und anderen Perspektiven, das ehrliche Ringen um gute Lösungen, um Lösungen, die eben möglichst allen (!!!) irgendwie Beteiligten gerecht werden.

Das ist alles nicht einfach. Und das geht auch nicht von oben herab. Das muss in einem offenen Dialog geführt werden, für den man häufig auch einen langen Atem braucht, manchmal auch einen sehr langen, aber für den wir heute hier alle einstehen wollen, für den wir jetzt hier stehen!

Und für den im Übrigen auch unsere Demokratie alle möglichen Mittel, Wege, Einrichtungen und Foren bereit hält, auch in unserer Stadt.

Gerade hier im Ruhrgebiet haben wir jahrhundertelange Erfahrung mit Integration. Der für das Land so wichtige Bergbau hat uns schon von Anfang an diese Aufgabe gestellt.

Für die Kumpel, die im 19. und 20. Jahrhundert zum Teil von weit her hierher in den Pott kamen, war es überlebenswichtig, sich unter Tage auf den anderen verlassen zu können, ganz gleich wo er herstammte, welche religiöse Überzeugung er hatte oder sonst an Weltanschauung – und über Tage wurde diese Solidarität ganz selbstverständlich mit allen gelebt, wie eine große Familie.
Es ist uns hier gelungen, die sogenannten Gastarbeiter mit ihren Familien zu integrieren.

Sie haben ganz entscheidend dazu beigetragen, dass unser Land dieses wohlhabende Land ist, das es ist. Und ebenso – und davon können die Menschen gerade hier in Massen besonders berichten – , auch viele Flüchtlinge und die SpätaussiedlerInnen.

Viele weitere Beispiele könnte man nennen und wenn man sich das alles vor Augen führt, dann könnte man fast schon sagen, dass wir beinahe „weltmeisterlich“ bei der Integration sind.

Wir sind schon immer ein Einwanderungsland gewesen, und das ist – bei all den Problemen, die es unleugbar (!!!) auch in der Vergangenheit damit gab – das ist im Großen und Ganzen gesehen wirklich richtig gut gewesen – und wird es auch zukünftig sein, wenn wir es positiv und konstruktiv angehen.

Ich bin übrigens überzeugt, dass viele von denen, die gleich nachher hier auf diesen Platz kommen, bei Lichte betrachtet, selbst von Einwanderern abstammen, die damals hier aufgenommen worden sind; statistisch gesehen ist das einfach so. Es täte ihnen gut, sich einmal auf ihre eigene Familiengeschichte zu besinnen.

Und die Menschen, die zu uns kommen, tun dies ja – damals wie heute – auch nicht, weil sie aus guten Verhältnissen in noch bessere wechseln möchten, sondern weil es dort, wo sie gelebt haben, unerträglich geworden ist, nur noch zum Verzweifeln – durch Krieg, Terror, Armut, Hunger oder dergleichen.

Sie sind auf der verzweifelten Suche nach einer neuen Heimat, nach einem neuen Zuhause.

Und für uns können sie letztlich auch so etwas sein wie ein Schatz – ein Schatz von Menschen, der aber auch gehoben sein will.

Und auch wenn es holprig ist, manchmal auch steinig, manch Integration vielleicht auch mal scheitert, insgesamt und unterm Strich gibt es aus meiner Sicht nur ein Fazit:

Es lohnt die Mühe, Ihnen freundlichst und mit offenen Armen zu begegnen; dann können sie uns auch mit viel Gutem bereichern, das sie in unsere Gesellschaft einbringen. – Offenheit können wir!

Und sie sollten wir – nicht nur aus christlicher Sicht – auch unbedingt leben und praktizieren.

Im Jahr der Fußball-WM 2006, da hat unser Land damals gezeigt, wie es in der übergroßen Mehrheit wirklich ist: Bunt, gastfreundlich, offen, tolerant und voller Lebensfreude. Das war schon wirklich phantastisch damals! – Aber was nutzt es euch Jungen, wenn wir Älteren euch davon vorschwärmen? Wir müssen uns alle dafür einsetzen, dass das auch zukünftig so bleibt, ja, dass diese Haltung wieder neu durchstartet.

Und dass unsere Gesellschaft diese bunte und offene Einstellung als ganze atmet. Dass wir sie alle ganz bewusst und voller Freude leben.

Dass wir konstruktiv nach wirklich sinnvollen und nachhaltigen Lösungen suchen und nicht nur Meckern und Lamentieren.

Um es mit einem Wort aus unserem kirchlichen Zusammenhang zu sagen: „Unser Kreuz hat keine Haken!“ – Wir stehen für die Werte ein, die das Leben wirklich bereichern und – auch im Sinne Gottes, davon bin ich überzeugt – mit Sinn füllen, nämlich für Demokratie, Offenheit, Freiheit und Vielfalt!“

4 KOMMENTARE

  1. Schöner Vortrag der einmal mehr die Verlogenheit unserer Kirchenvertreter zeigt.

    Dummes Gelaber zum Thema Migration.
    Es gibt genug Tätigkeitsfelder wo die Kirche sich engagieren könnte vor allem bei der zunehmen Armut die auch zu Obdachlosigkeit führt.
    Interessiert sie aber einen feuchten Kehricht wie am Beispiel einer Düsseldorfer Kirche an der ein hochwertiges und somit teures Gitter installiert wurde damit Obdachlose dort keinen Schlafplatz mehr haben.
    Sie könnte ja etwas beschmutzen.

    Mehr ist zu dem Auftritt des Pfaffen eigentlich nicht zu sagen.

    • Präzise formuliert. Danke für die klaren Worte. Diese sog. „Kirche“ verdient ihren Namen schon lange nicht mehr.

      Es wird einem eher schlecht bei dem Gedanken daran.

  2. Die Diskrepanz zwischen seiner Rede, seinem Handeln und dem pöbelnden Mob auf seiner Veranstaltung wird deutlich.

    Ohne den Rundblick könnten Interessierte gar nicht erfahren, was da überhaupt gesprochen wurde. Für mich war es analytisch sehr aufschlußreich (Stichwort Jakobinertum).

    Vieles könnte ich dazu schreiben, aber ich will mit meinen Kommentaren nicht zu aufdringlich werden.

    Letztendlich führt eine überteuerte Portion Pommes auf dem Altstadtfest zu mehr Resonanz bei den Bürgern als diese Rede.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here