Am meisten gelitten, kaum beachtet: Tagung in Kamen zieht ernüchternde Nach-Corona-Bilanz

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Foto: Symbolfoto ©A. Reichert

Es war ein dringender Appell, den Peter Wehlack, Leiter der Fridtjof Nansen Realschule, an alle Beteiligten richtete: Bevor die Schulen ihren Schülerinnen und Schülern wie gewohnt Wissen und Unterrichtsstoff vermitteln können, benötigen die Kinder und Jugendlichen nach den Monaten corona-bedingter Isolation zunächst einmal ganz andere Unterstützung.

„Die Schüler sind es nicht mehr gewohnt, sich auszutauschen und sich miteinander auseinanderzusetzen. Es fehlt ihnen einfach das Gefühl von Sicherheit. Dies ist jedoch eine wichtige Voraussetzung, um den Unterrichtsstoff vernünftig aufnehmen zu können. Erst wenn wir diese Defizite aufgearbeitet haben, kann Schule wieder zum gewohnten Alltag zurückkehren.“, bilanzierte der Schulleiter seine aktuellen Erfahrungen bei der jüngsten Präventionskonferenz in der Stadthalle Kamen.

Präventionskonferenz in der Kamener Stadthalle. (Foto Stadt Kamen)

Peter Wehlacks Input im Podiumsgespräch der Veranstaltung war ebenso eindringlich wie deutlich – und mindestens genauso unumstritten. Denn die etwa 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus all den Einrichtungen, Vereinen und Verbänden, die sich in Kamen für Kinder, Jugendliche und Familien engagieren, machen zurzeit dieselbe Erfahrung:

Kinder und Jugendliche sind durch die Corona-Zeit offenbar am stärksten belastet, wurden bislang  aber am wenigsten beachtet. Eine ernüchternde Bestandsaufnahme.

Den Zusammenhang belegen auch Zahlen, die die Psychologin Andrea Brinkmann, Leiterin der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Städte Bergkamen und Kamen, den Anwesenden vorstellte.

So hätten sich im Sommer 2020 71 Prozent der elf- bis 17-Jährigen durch die Pandemie seelisch belastet gefühlt. Zwei Drittel von ihnen gaben eine verminderte Lebensqualität und ein geringeres psychisches Wohlbefinden an. Anfang 2021 ist die subjektive seelische Belastung der Kinder und Jugendlichen noch einmal auf mehr als 80 Prozent angestiegen.

Das Problem:

„Kinder und Jugendliche haben positive Erinnerungen, an die sich Erwachsene in einer Krise klammern können, noch nicht genügend sammeln können. Die Unsicherheiten der Corona-Krise im Zusammenspiel mit der Klimakrise haben viele Jugendliche verstört und ihnen den Nährboden genommen, sich in eine Zukunft hineinzudenken, auf die es sich zu freuen lohnt“,

schilderte Brinkmann. Wenn Jugendliche die Frage nach ihrer Rolle in der Zukunft nicht beantworten können, weil die Zukunft von Angst und Sorgen verschleiert wird, sind psychische Krisen fast unvermeidlich. Betroffen von den Einschränkungen der Corona-Pandemie sind alle Altersgruppen – frühkindliche Sinneserfahrungen wurden ebenso erschwert wie das gemeinsame Spielen in der Kindertagesstätte oder die Suche eines Ausbildungsplatzes.

Für Kinder und Jugendliche muss jetzt dringend etwas getan werden, waren sich die Konferenzteilnehmer einig. (Foto Stadt Kamen)

Um dies verhindern zu können, loteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus, was sie für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien tun können.

„Der Bedarf nach einer gezielten und abgestimmten Präventionsarbeit für ein gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ist aktuell drängender denn je“, sagt Nicole Börner. Wichtig ist ihr, hierbei vor allem die Ressourcen und nicht die Defizite in den Blick zu nehmen. Eine große Ressource, auf die die Beteiligten zurückgreifen können, ist die intensive Zusammenarbeit vieler Träger und Einrichtungen im Rahmen des kommunalen Präventionskonzepts „Gemeinsam stark!“ für die Stadt Kamen, das im Juli 2018 verabschiedet wurde.

Die Präventionskonferenz in der Stadthalle ist Bestandteil dieses Konzeptes. Ihr Ziel unter anderem: Ideen entwickeln, um Kinder und Jugendliche zu unterstützen.

Die vielfältigen „Corona-Aufholprogramme“ von Land und Bund – adressiert an Schulen, den Schulträger, das Jugendamt, den Sport und viele weitere – helfen dabei, Maßnahmen umzusetzen. Die Praktiker aus Kitas, Schulen, Behörden, Jugendtreffs, Beratungsstellen und Politik erarbeiteten in Arbeitsgruppen Vorschläge.

Einige Ideen waren bereits sehr konkret – so etwa der Vorschlag einer Arbeitsgruppe mit Vertretern aus Schulen und Jugendarbeit, Teamfähigkeit und Sozialverhalten in Schulklassen mit theaterpädagogischen Angeboten zu fördern.

Die Idee dahinter: Indem die Schüler beispielsweise die Corona-Situation in Rollenspielen aufarbeiten, rücken die Klassen, die sich zuletzt entfremdet haben, wieder zusammen. „Das stärkt die Routine im Umgang miteinander“, sagte Michael Wrobel, Leiter des Freizeitzentrums Lüner Höhe. Die anwesenden Schulleitungen begrüßten den Vorschlag ausdrücklich. Die einzelnen Vorschläge aus den Arbeitsgruppen werden nun von der Verwaltung zusammengefasst und ausgewertet.

Bürgermeisterin und Jugenddezernentin Elke Kappen bekräftigte in der Podiumsrunde ihren Wunsch und ihren Anspruch, dass mit den Maßnahmen alle Kinder in Kamen erreicht werden. Dies war zuletzt jedoch gar nicht so selbstverständlich: Die Maßnahmenpakete von Land und Bund beinhalten zwar umfangreiche Unterstützungsmöglichkeiten – Kinder zwischen drei und sechs Jahren fallen jedoch durchs Raster.

Lediglich Sprachkitas, in denen ein großer Anteil der Kinder nicht Deutsch als Muttersprache hat, erhalten eine Förderung – in Kamen sind dies gerade mal sechs von 20 Kitas.

Bürgermeisterin Kappen findet dies keineswegs nachvollziehbar: „Es haben alle Kinder haben unter Pandemie gelitten bzw. leiden noch heute darunter.“ Die Bürgermeisterin nahm deshalb Kontakt zur Stiftung „Gutes tun“ der Sparkasse UnnaKamen auf und bat um Unterstützung. Die Stiftung ließ nicht lange bitten – und stellt den Beteiligten 20.000 Euro zur Verfügung, um auch im Kita-Bereich Projekte umsetzen zu können.

Foto Präventionskonferenz_1: In Arbeitsgruppen loteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Präventionskonferenz aus, was sie für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien tun können.

Foto Präventionskonferenz_2: Unter der Moderation der Journalistin Andrea Blome (v.l.n.r.) fassten Bürgermeisterin Elke Kappen, Andrea Brinkmann (Leiterin der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Städte Bergkamen und Kamen), Isabell Veltmann (unter anderem Familienkrankenschwester in den Frühen Hilfen),

Alexandra Möller (Leiterin AWO Kita und Familienzentrum Gänseblümchen in Kamen-Methler) und Peter Wehlack (Leiter der Fridtjof Nansen Realschule) die Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen zusammen und werteten diese aus.

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