Vor gravierenden Folgen durch noch längere Schließung von Kitas und Schulen warnen eindringlich vier große deutsche medizinische Fachgesellschaften. Sie fordern, Schulen und Betreuungseinrichtungen schnellstmöglich für alle Kinder und Jugendlichen wieder zu öffnen.
Die SPD-Opposition im Düsseldorfer Landtag verlangt derweil einen Stufenplan, der es allen Kindern vom 8. Juni an wieder erlaubt, eine Kita zu besuchen. NRW müsse sich an nördlichen Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern orientieren, wo schon ab Ende Mai alle Kinder wieder in die Kita gehen können – zumindest für sechs Stunden täglich.
Das führt inzwischen zu massiven Protesten unter der großen Gruppe Eltern, deren Kinder weiterhin nicht zur Kita gehen dürfen. Die meisten müssen sich bis zu den Sommerferien den bisherigen Plänen nach mit wenigen Tagen begnügen.
Familienminister Joachim Stamp (FDP) wies die Kritik zurück: Die Öffnung folge einem klaren Plan, bei dem jeder Schritt mit den Trägern abzustimmen sei. Der Schritt für Juni werde gerade „finalisiert“.
Währenddessen schlagen vier große deutsche medizinische Fachgesellschaften Alarm: Sie prognostizieren gravierende negative Folgen für zahlreiche Kinder und fordern Bund, Länder und Kommunen gemeinsam dazu auf, Kindergärten und Schulen trotz der Corona-Pandemie umgehend und vollständig zu öffnen.
Darüber berichtet die „Neue Osnabrücker Zeitung“, der das Papier vorab vorliegt.
Der Grund des Vorstoßes:
„Insbesondere bei Kindern unter 10 Jahren sprechen die aktuellen Daten sowohl für eine geringere Infektions- als auch für eine deutlich geringere Ansteckungsrate.“ Im Gegensatz dazu seien die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Schließung gravierend.
In ihrer fachrichtungsübergreifenden Stellungnahme schreiben die Gesellschaften, „Kitas, Kindergärten und Grundschulen sollen möglichst zeitnah wiedereröffnet werden“, und zwar „uneingeschränkt“. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung sei dies „aufseiten der Kinder ohne massive Einschränkungen“ möglich. „Kleinstgruppenbildung und Barriereschutzmaßnahmen wie Abstandswahrung und Maskentragen“ seien unnötig.
„Entscheidender als die individuelle Gruppengröße ist die Frage der nachhaltigen Konstanz der jeweiligen Gruppe und Vermeidung von Durchmischungen.“ Mit anderen Worten: Es könne ruhig eine komplette Klasse unterrichtet werden, solange man etwa in den Pausen darauf achte, dass sich die Schüler nicht mit denen anderer Klassen träfen.
Die Lehrkräfte seien zu schützen durch Masken, Abstand untereinander und eigene Hygienemaßnahmen sowie die von Kindern, die diesen gegebenenfalls spielerisch zu vermitteln seien.
Hinter der Stellungnahme stehen die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland.
Zu der umstrittenen Frage, wie ansteckend Kinder seien, schreiben die Autoren in ihrem Paper vom 18. Mai:
„Zahlreiche Erkenntnisse sprechen gegen ein erhöhtes Ansteckungsrisiko durch Kinder. Verschiedene Untersuchungen, Reviews, Ausbruchs- und Clusteranalysen, Modellierungen in Verbindung mit den Auswertungen früherer Influenza-Pandemien (siehe unten) sowie die publizierten Auswertungen der bisherigen Coronavirus-Pandemien Mers und Sars-1 ergeben ein zunehmend schlüssiges Bild, dass Kinder in der aktuellen Covid-19-Pandemie im Gegensatz zur Rolle bei der Influenza-Übertragung keine herausragende Rolle in der Ausbreitungsdynamik spielen.“
Es sei bisher nicht ein Beleg für eine Übertragung auf mehrere Erwachsene durch ein infiziertes Kind bekannt. „Auch diese Übertragungssituationen wird es geben, aber sie scheinen von geringerer Relevanz zu sein“, schreiben die Mediziner.
Ohne ihn an dieser Stelle namentlich zu nennen, gehen die Wissenschaftler und Mediziner kritisch auf den Charité-Virologen Christian Drosten und seine Untersuchung der Viruskonzentration im Rachen von Kindern ein, womit er ein gleich hohes Infektionsrisiko suggeriert hatte wie durch Erwachsene.
„Unabhängig von der Selektion durch eine Untersuchung vorwiegend symptomatischer Kinder und der geringen Fallzahl kann die Zulässigkeit bezweifelt werden, dass aus dem quantitativen viral load in den oberen Atemwegen auf das tatsächliche Übertragungsrisiko geschlossen werden kann“, entgegnen dem die Autoren der Stellungnahme. „Ungewöhnlich erscheint auch, dass trotz offenkundigen Diskussionsbedarfs in Anbetracht der kontroversen epidemiologischen Daten und der Vergleiche mit Analysen früherer Coronavirus- und Influenza-Pandemien die Warnung vor einer ,unlimited‘ Wiedereröffnung von Kindergärten und Schulen bereits im einleitenden kurzen Abstract hervorgehoben wird“, monieren die Fachgesellschaften.
In ihrer Untersuchung stellen sie in der Folge zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen sowie Länderberichte aus Deutschland, Frankreich, Island, Großbritannien, der Schweiz, Norwegen, den Niederlanden und Australien zusammen und geben stets die Quellen an.
- „In den Niederlanden führen alle kommunalen Gesundheitsdienste (GGDs) eine intensive Analyse der Infektionsketten mit Kontaktverfolgung durch. Hiernach wurden keine Patienten unter 18 Jahren gefunden, die andere Personen angesteckt haben“, heißt es etwa.
- „Eine relevante Rolle von Schulschließungen auf die Ausbreitungsdynamik wird für die aktuelle Covid-19-Pandemie verneint“, schreiben Experten aus Großbritannien. Die steigende Evidenz für diese Datenlage veranlasse sie, eine sofortige Öffnung der Schulen für Kinder und Jugendliche zu fordern und hierin auch Kinder mit vorbestehenden Grunderkrankungen einzuschließen.
- Schweizer Wissenschaftler maßen der Schließung von Schulen zwar einen Effekt bei der Corona-Bekämpfung bei, aber einen nachrangigen.
Die Autoren der Fachgesellschaften nehmen auch Stellung zu Medienberichten, wonach eine andere Krankheit mit gegebenenfalls schwerwiegenden Folgen, ähnlich der Kawasaki-Krankheit, mit Corona-Erregern in Verbindung stehen könnte. „Das Auftreten eines solchen multisystemischen Hyperinflammationssyndroms ist in Relation zur Gesamtzahl der mit Sars-CoV-2 infizierten Kinder so selten, dass es an den grundsätzlichen, in dieser Stellungnahme formulierten Schlussfolgerungen nichts ändert“, heißt es. Verdachtsfälle sollten frühzeitig stationär überwacht und behandelt sowie an die Gesundheitsbehörden gemeldet werden.